Opernbestände der Bibliotheken römischer Fürstenhäuser
Erschließung und Digitalisierung
Zwei der römischen Fürstenhäuser besitzen bis heute in ihren Privatbibliotheken zahlreiche handschriftliche Opernpartituren aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Es handelt sich um das Archivio Doria Pamphilj mit 36 Partituren, 28 Sammelbänden sowie weiteren Einzelfaszikeln und die weitaus umfangreichere Biblioteca Massimo im Palazzo Massimo alle Colonne mit etwa 150 teilweise mehrbändigen Partituren.
Bekannt sind diese Sammlungen durch zwei Listen aus den 70er und 80er Jahren, die durch Claudio Annibaldi und Friedrich Lippmann veröffentlicht wurden. Eine systematische Erfassung und Auswertung der Bestände ist aber bislang ausgeblieben. Hier setzte das seit 2008 von der DFG geförderte Projekt an, welches auch eine Digitalisierung der Quellen und die Zusammenarbeit mit der renommierten Datenbank „Répertoire International des Sources Musicales“ (RISM) vorsah.
Das Material der Sammlungen hat eine hohe wissenschaftliche Relevanz und lässt gleich mehrere Forschungsansätze zu. Vor allem dient es der Opernforschung. Diese hatte sich am DHI u.a. bereits in der Person Friedrich Lippmanns stark mit stilistischen Fragen der italienischen Oper im späten 18. und 19. Jh. auseinandergesetzt. Das Forschungsfeld bietet aber noch viele Herausforderungen, vor allem für die Jahrzehnte um 1800, die oft zu Unrecht als bedeutungslose Übergangszeit zwischen Cimarosa und Rossini beschrieben worden sind. Die Sammlung Massimo schließt hier wichtige Lücken in der Überlieferung, z.B. was den Cimarosa-Zeitgenossen Pietro Alessandro Guglielmi betrifft, von dem die Bibliothek einige wertvolle Unikate besitzt. Aspekte des Wandels in der Gesangskultur um 1800 werden anhand vieler weiterer Quellen der Sammlung nachvollziehbar – etwa mit Blick auf den Beitrag heute vergessener, aber seinerzeit bedeutsamer Komponisten wie Valentino Fioravanti, Giuseppe Nicolini oder Niccolò Zingarelli. Fragestellungen dieses Forschungsbereiches wurden u.a. im Rahmen eines Round Tables bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in Rom 2010 diskutiert. Die Beiträge italienischer, deutscher und englischer Wissenschaftler sind, gemeinsam mit denen anderer thematisch verbundener Round Tables, in Band 50 der Reihe "Analecta musicologica" (Umbruchzeiten in der italienischen Musikgeschichte, hg. von Roland Pfeiffer und Christoph Flamm, Kassel 2013) nachlesbar.
Ein weiterer Aspekt des Materials betrifft Fragen der Musikpflege in den Adelshäusern. Aufführungen vollständiger Opern sind dort kaum nachweisbar. Diese blieben in aller Regel den öffentlichen Opernhäusern vorbehalten, wie z.B. den Theatern Argentina, Valle und Capranica. Gelegentlich konnten diesen Repräsentationen Vor-Aufführungen im privaten Rahmen vorausgehen. Häufiger waren dort jedoch die sogenannten Akademien mit Darbietungen verschiedener Kunstformen, die oft auch Opernausschnitte einschlossen (die Dokumentation derartiger Soirées ist in Bezug auf die hier genannten Adelsfamilien im 18. Jh. zwar spärlich, aber vorhanden). Eine Privatbibliothek musste vermutlich für solche Ereignisse auf alle Wünsche vorbereitet sein: hier liegt ein möglicher Grund für die Anschaffung von Musikhandschriften, etwa durch den Fürsten Giorgio Andrea IV. Doria Landi Pamphilj, der zwischen 1764 und 1777 Sammlungen von Opern und Instrumentalmusik (mit Schwerpunkt auf römischem, aber auch Präsenz von norditalienischem bzw. nordalpinem Repertoire) anlegen ließ. Erst in späteren Jahrzehnten wird auf einzelnen Arien angemerkt, welche Person (ggf. aus der Familie) sie einmal aufgeführt hat, so z.B. „Sueccellenza Teresa Orsini“, Gattin des folgenden Fürsten Luigi Giovanni Andrea V. Abgesehen vom (hier in Grenzen vorhandenen) aufführungspraktischen Verwendungszweck darf nicht vergessen werden, dass der Aufbau einer wertvollen (Musik-)Bibliothek auch aus Prestigegründen für einen Adligen ratsam war. Der Forschungsbereich der Pflege von Musik und Musikalien in den Adelshäusern bietet nach wie vor zahlreiche Anknüpfungspunkte zu interdisziplinären Fragestellungen der Geschichte und Kulturgeschichte, z.B. was die beabsichtigte Außenwirkung, die gesellschaftliche Stellung der Adelsfamilien oder den kulturellen Rang betrifft, welcher bestimmten Äußerungsformen musikalisch-künstlerischer Aktivitäten zugeschrieben werden konnte.
Ein bislang erst wenig berührtes Forschungsfeld betrifft schließlich praktische Fragen der Produktion und Verbreitung handschriftlicher Opernmusik. Aus Kostengründen nur selten gedruckt, wurde diese nahezu ausschließlich in Kopistenwerkstätten abgeschrieben und von diesen an Interessenten verkauft, so auch an die Familie Massimo. Deren einzigartige und umfangreiche Sammlung bietet sich in idealtypischer Weise für eine Auswertung mit Blick auf die an ihrer Herstellung beteiligten Schreiber und deren Stellung im römischen Musikalienmarkt der Zeit an. Nach einer ersten Analyse der Quellen unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Partituren überwiegend den Werkstätten Cencetti, Adami und Rosati zuschreiben. Dabei sind Merkmale ausfindig zu machen, die eine Provenienz eindeutig bestimmen, wie z.B. besonders charakteristisch verzierte Abkürzungen für die Violinstimmen. Ein aufwendigerer Vergleich der Schreiberhände untereinander ließe Rückschlüsse auf die Datierung der Quellen zu, welche nur in Ausnahmefällen explizit auf der Partitur angegeben wird. Die Anlegung eines „Findbuches“ für römische Kopistenhände im 18. Jahrhundert ist großes Desiderat der Forschung, für dessen Verwirklichung die Sammlung Massimo ein wichtiges Standbein darstellt.
Aufgrund der schweren Zugänglichkeit und problematischen Aufbewahrung der wertvollen Originale hatte sich das Forschungsprojekt eine Digitalisierung zum Ziel gesetzt, um die Quellen dauerhaft für die Zukunft zu sichern. Das mit Hilfe zweier weiterer Mitarbeiter entstandene digitale Opernarchiv umfasst mehr als 115.000 Einzelbilder und könnte in der Zukunft eine wichtige Grundlage für Editionsprojekte bieten. Neben den Einzelbildern im tiff-Format für die Langzeitarchivierung enthält es pdf-Dateien für die Konsultation. Diese kann nach derzeitigem Stand aus rechtlichen Gründen nur innerhalb der Musikgeschichtlichen Bibliothek des DHI erfolgen. Sämtliche Partitur-Dateien wurden zu diesem Zweck mit Inhaltsverzeichnissen und Lesezeichen versehen. Schließlich sind wichtige Informationen zu den Manuskripten und Incipits (ca. 8.800) aller Musiknummern der Sammlung Massimo in die fachspezifische Datenbank „Répertoire International des Sources Musicales“ (RISM) eingeflossen. Über den OPAC kann dort sowohl nach Autoren, Werktiteln, Datierungen oder Schreibern, als auch nach Rollen, Textanfängen und Notenincipits einzelner Arien recherchiert werden. Diese Informationen zu den neu erschlossenen Quellen des Projektes sind somit weltweit online verfügbar. Über die Datenbank Partitura gelangt man (nur innerhalb der Bibliothek) zu den Digitalisaten; vertiefende Kommentare zu den Sammlungen, ihren Manuskripten und Kopisten sind auch von außerhalb einsehbar.