Heilende Cäcilia. Sakrale Musik und Menschen mit Behinderung in Spitälern des deutschen und italienischen Sprachraums (ca. 14.–18. Jahrhundert)

Dr. David Merlin

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren die Spitäler multifunktionale Institutionen, in denen Menschen mit chronischen oder temporären Behinderungen lebten (Kranke, Alte, Menschen mit sensorischem, körperlichem oder kognitivem Defizit). Trotz zunehmender Medikalisierung im Laufe der Zeit herrschte die Ansicht vor, dass die Heilung hauptsächlich vom Christus medicus durch häufige religiöse Praktiken geleistet wurde. Die Insass*innen beteten für sich selbst und für die Wohltäter*innen des Spitals, innerhalb dessen – nicht nur in der Kirche oder Kapelle – eine intensive musikalische Praxis stattfand. Diese stand im Zusammenhang mit religiösen Handlungen, sowohl liturgischen als auch andachtsmäßigen (paraliturgischen).
In den Spitälern wurde die Liturgie im täglichen, wöchentlichen und jährlichen Takt zelebriert (eucharistisch, sakramental, prozessional, Stundengebet) und war stets von Musik, sowohl einstimmig als auch mehrstimmig, begleitet. Außerdem war die tägliche Praxis des gemeinsamen Gebets sehr wichtig, die auch das Singen von religiösen Liedern in der Volkssprache umfassen konnte.

Das Forschungsprojekt untersucht anhand von Fallstudien aus dem cis- und transalpinen Raum die para- und liturgischen Musikpraktiken in Spitälern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Dabei liegt der Fokus sowohl auf den Veränderungen, die durch die Reformation und Gegenreformation eintraten, als auch auf der Kontinuität einer ununterbrochenen Tradition vom Mittelalter bis an die Schwelle zur Moderne. Alle Spitalinsass*innen, einschließlich der Personen mit Behinderungen, waren in die Kulthandlungen eingebunden. Sie nahmen teils aktiv, teils passiv, mitunter sogar gezwungenermaßen am religiösen (Musik-)Leben der Spitäler teil. Die Untersuchung dieser Aspekte ist ein zentrales Anliegen der Studie.
Das Forschungsvorhaben ist in der historischen Musikwissenschaft verortet und stellt die bisher wenig erforschte musikalische Tradition der Spitäler in den Vordergrund. Musikalische, dokumentarische und präskriptive Quellen bilden die Grundlage hierfür. Genutzt wird der interpretative Ansatz der Disability Studies. Die Einbeziehung von Personen mit Behinderung, die einen wesentlichen Teil dieser Tradition der religiösen und musikalischen Praktiken ausmachte, wurde bisher kaum untersucht.

Dr. David Merlin
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Musikgeschichte
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