Mythen und Monumente der Nation. 'Alte Musik' in Italien zwischen Unità und fascismo

Dr. Carolin Krahn

Musica Antica Italiana, Titelblatt eines Drucks von Breitkopf & Härtel, 1895 (© Breitkopf & Härtel).

Inwiefern wurde das Konzept 'alte italienische Musik' als nationale Referenzgröße in Italien zwischen der politischen Einheit und dem Ende des faschistischen Regimes gestaltet? Wie veränderten sich dabei Repertoires und Darstellungen der italienischen Musiktradition?
Ausgehend von diesen Fragen liegt der Fokus des Forschungsprojekts auf der Idee der 'Alten Musik' und dem praktischen Umgang damit im Zeitraum von 1861 bis 1943.
Die Hypothese des Projekts lautet, dass es sich bei dem, was sich hinter dem Begriff 'Alte Musik' (bzw. musica antica) verbirgt, um einen in unterschiedlichen Kontexten changierenden Bedeutungskomplex handelt, mit welchem die Idee der italienischen Nation verknüpft worden ist. Dementsprechend gilt es, 'Alte Musik' in Italien im genannten Untersuchungszeitraum nicht als gegebene, durchweg unveränderte Kategorie zu behandeln, sondern als ein aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachtendes Phänomen. Dieses ging mit dem nationalen Identitätsbildungsprozess in Italien einher und konnte darum in unterschiedlichen Kontexten bewusst geformt und auch für kulturpolitische Zwecke genutzt werden. Vor diesem Hintergrund soll hier die Bezeichnung 'Alte Musik' als ein Mythos verstanden werden, der immer wieder neu interpretiert und mit musikalischen Inhalten von Palestrina oder Marenzio über Tartini, Boccherini und darüber hinaus gefüllt sowie historiographisch vermittelt worden ist, um beispielsweise die Monumentalität und Kontinuität der italienischen Musiktradition zu unterstreichen.
Der Umgang mit der musica antica innerhalb Italiens wird im Forschungsprojekt auf vier Ebenen analysiert, die einander in Hinblick auf Material und Methode ergänzen: musikhistorische Monographien; Editionen von 'Alter Musik'; Komponieren mit 'Alter Musik' sowie publizistische Diskurse über 'Alte Musik' im Faschismus. Auf Basis des ausgewerteten Quellenmaterials aus diversen italienischen Archiven verbinden die genannten Akzentuierungen die kulturelle Gedächtnisforschung mit Theorien der Traditions- und Kanonbildung. Zugleich wird damit an Forschungsbeiträge zu Teilaspekten der skizzierten Thematik auf dem Gebiet der Musikwissenschaft angeknüpft (vgl. Nicolodi 1991, Garratt 2002, Ellis 2005, Celestini 2007, Vitzthum 2007, Bertola 2014).
Das Erkenntnisinteresse der von Anbeginn dynamisch gehaltenen Perspektive auf 'Alte Musik' besteht darin, spezifische darauf bezogene Praktiken innerhalb der politischen Grenzen Italiens in ihrer Komplexität zu erfassen. Demgemäß zielt das Projekt auch darauf ab, Musik und deren Repräsentation im Spannungsfeld von Historismus, musikalischer Moderne und nationaler Kulturpolitik umfassend zu verorten. Auf dieser Grundlage wird die Behandlung unterschiedlicher Repertoires anhand ausgewählter Fallstudien, die unter dem Begriff 'Alte Musik' subsumiert und in den Kontext der Nation gerückt worden sind, differenziert reflektiert. Damit können Desiderate in der kultur- und musikhistorischen Forschung zum Nationalismus im 19. Jahrhundert sowie zur Rolle der Musik im Faschismus geschlossen werden.

Dr. Carolin Krahn
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Musikgeschichte
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