Moderne, Nation und Tod. Eine deutsch-italienische Kulturgeschichte der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert
Dr. Carolin Kosuch
1876 wurde in Mailand das erste Krematorium des neuzeitlichen Europa in Betrieb genommen. Nur zwei Jahre später konnte nicht zuletzt durch die Bemühungen eines Feuerbestattungsvereins der Bau einer zweiten Anlage im thüringischen Gotha fertig gestellt werden. Die Koinzidenz dieser Ereignisse ist nicht zufällig, sondern führt direkt in die Geschichte der beiden "verspäteten Nationen" Italien und Deutschland. Das Projekt hatte zum Ziel, durch die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Feuerbestattungsfrage, welche zunächst in Italien diskutiert wurde und wenig später auch den transalpinen Raum erreichte, vergleichend auf die moderne deutsche und italienische Geschichte zu blicken. Verschiedene Ebenen sind mit der in dieser Zeit wiedererstehenden Praxis der Kremation verbunden: Sie tangiert sowohl theologische Fragen als auch politische Aspekte, Staats- und Kirchenrecht, sie ist tief mit einer den gesamten europäischen Raum durchziehenden Säkularisierungstendenz assoziiert, rührt aber auch an ein ultramontanes, antimodernistisches Element. Bei all dem wird sie im italienischen und deutschen Kontext jeweils spezifisch verhandelt. Anders etwa als in den deutschen Gebieten war die Feuerbestattungsbewegung auf italienischer Seite strikt antikirchlich konnotiert und übersetzte damit die Polaritäten des Risorgimento in einen sich wandelnden Umgang mit dem Leichnam. Demnach bezogen die Bewegung und ihre Vertreter eine diametral entgegengesetzte Position zur Theologisierung des Papstums, das sich zu dieser Zeit mit den Dogmen von Unbefleckter Empfängnis (1854) und Infallibilität (1870) auf eine dezidiert traditionalistische Linie zurückzog. Mit der Feuerbestattung wurde auf diese Weise eine Rebellion gegen Ewigkeit und Dogma und gleichzeitig gegen Widerstände die Nationswerdung betreffend möglich. Auf deutscher Seite ist die Verbindung zu aktuellen politischen Fragen hingegen weniger augenscheinlich. Vielmehr scheint die Feuerbestattung ihren Platz im Aufbruch der Gesellschaft, nicht der Nation gefunden zu haben. In zahlreichen Vereinen bezog sie ihren Rückhalt aus der protestantischen Bürgerkultur und verbreitete sich in einem großen Schriftaufkommen.
Bei all dem verweist das Phänomen der Feuerbestattung dies- und jenseits der Alpen auch auf eine sich verändernde Wahrnehmung des Körpers. Parallele Bewegungen, wie etwa jene des Tierschutzes und damit verbunden der Debatte um das Schächten flossen in ein antisemitisches Weltbild ein, das in der Geschichte beider Länder je unterschiedlich zum Tragen kam. Darüber hinaus kann danach gefragt werden, inwieweit die Feuerbestattung in ihrer deutschen und italienischen Ausprägung auch eine jüdische Seite hatte und wie sich über den Umgang mit dem toten Körper das assimilatorische Bekenntnis zu Nation und Gesellschaft, zu Fortschritt und Moderne gestaltete.
Mit dem Projekt fand die wenig erforschte Frühzeit der Feuerbestattungsbewegung in beiden Ländern Betrachtung. Wie die Idee der Kremation entstand, wie sie debattiert und bekämpft wurde, wie sie sich in den politisch-gesellschaftlichen Kontexten Italiens und Deutschlands einfügte und welche als Indikatoren für die weitere Entwicklung stehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich dieses Gegenstandes in der deutschen, italienischen und jüdischen Geschichte auszumachen sind, stand im Fokus der Untersuchung.
Dr. Carolin Kosuch
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Neuere und Neueste Geschichte 2014–2018