Das Meer und maritime Aktivitäten in erzählenden Quellen des Früh- und Hochmittelalters

Dr. Sebastian Kolditz

In der jüngeren historischen Forschung zeichnet sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für Meere als Räume historischen Geschehens ab, die ihren Niederschlag nicht nur in zahlreichen Spezialstudien, sondern auch großen Synthesen gefunden hat. Die Geschichte von Meeren wird dabei in ganz unterschiedlicher Weise thematisiert und erzählt. Für das frühere Mittelalter stehen dafür jedoch ‒ neben dem reichhaltigen archäologischen Material ‒ oft nur bruchstückhafte Einzelnachrichten zur Seefahrt, zu Seekriegsunternehmungen oder maritimen Raubüberfällen aus erzählenden Quellen zur Verfügung.
Diese verstreuten, in ihrer Summe durchaus zahlreichen Nachrichten aus unterschiedlichen historiographischen Sprach-, Gattungs- und Regionaltraditionen bilden die Materialgrundlage des Forschungsprojektes, das nach den Darstellungsweisen des maritimen Geschehens in vornehmlich historiographischen Texten fragt, die zumeist aus dem Zeitraum vom 8.–12. Jahrhundert stammen. Lateinische und griechische Texte sollen dabei parallel und teils vergleichend betrachtet werden. Von Interesse sind unter anderem Wahrnehmungshorizonte, Vorstellungen von den Meeresräumen sowie konkrete geographische oder nautische Wissensbestände und die diesbezüglich in den Quellen verwendete Terminologie, die teils sehr präzise und differenziert, teils aber auch sehr stereotyp ist.
Darüber hinaus ist exemplarisch nach den Techniken narrativer Konstruktion im Hinblick auf berichtetes und erlebtes maritimes Geschehen zu fragen, einerseits auf der Ebene einzelner Episoden, andererseits hinsichtlich deren Einbindung in die historiographischen Werke.
Vor diesem Hintergrund wurde der Aufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Rom genutzt, um die italienischen Quellen zu sichten, denen für das Projekt eine besonders fundamentale Rolle zukommt. Dies gilt einerseits für die frühen historiographischen Traditionen der "Seerepubliken" Venedig, Pisa und Genua, in denen maritimes Geschehen auf sehr unterschiedliche Weise zur Darstellung kommt. Dabei ist auch zu fragen, wie dieses historische Gedächtnis jeweils zur Formierung einer maritimen Identität auf lange Sicht beigetragen hat. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die reichhaltige historiographische Tradition des normannischen Süditaliens (unter Berücksichtigung ihrer langobardischen Vorläufer), vor allem hinsichtlich der Darstellung normannischer Seemacht, die punktuell auch in der byzantinischen Historiographie und der nordalpinen Chronistik und Annalistik einen markanten Niederschlag gefunden hat.

Dr. Sebastian Kolditz
Ludwig und Margarethe Quidde Fellow 2019/2020