Musikalische Begriffsgeschichten. Grundbegriffe der Vokalmusik im terminologischen Diskurs

PD Dr. Sabine Ehrmann-Herfort

Dass sich bei der Ausbildung von Begriffsinhalten der bezeichnende Terminus und die bezeichnete Sache wechselweise beeinflussen und beide Entwicklungsstränge miteinander auf kaum zu entwirrende Weise verwoben sind, macht ein gutes Stück der Faszination von Begriffsgeschichte aus. Ihr Gegenstand sind die Fachbegriffe einer Disziplin, in denen sich fachspezifische Prozesse kristallisieren. Die in den Fachtermini solchermaßen verdichteten Kontexte zu analysieren und dabei zugleich unterschiedliche Entwicklungsphasen und Bedeutungsmodifikationen zu reflektieren, zählt zu den zentralen Aufgaben begriffsgeschichtlicher Forschung.
Auch in den Geschichten musikalischer Fachbegriffe spiegeln sich solch vielgestaltige historische Prozesse, handelt es sich doch auch bei musikalischen Termini selten um ein für allemal abgeschlossene Einheiten, sondern vielmehr häufig um im Fluss befindliche und von zahlreichen Faktoren geprägte Bezeichnungsverfahren.
Die geplante Studie arbeitet mit einem offenen und nicht hierarchisch strukturierten Pool zentraler Begrifflichkeiten aus der Vokalmusik, zu denen einflussreiche Vokalgattungen ebenso wie musikalische Institutionen und weitere Begriffsprägungen mit vokalmusikalischer Relevanz gehören. Im Fokus der Untersuchungen stehen Termini wie Madrigal, Monodie, Kantate, Oper, Operette, Musiktheater und Kapelle, deren Wortgeschichte vielfach in der Antike oder in mittelalterlichen Kontexten beginnt und deren zumeist aus dem italienischen Sprachbereich stammende Begriffsprägung bis in unsere Tage mit immer wieder modifizierten Konnotationen verbunden wird. Den »langen« Geschichten dieser Termini ist gemeinsam, dass sie infolge innovativer Konzepte und veränderter aufführungspraktischer Trends mehrfach neu ausgerichtet werden. Außerdem ist den in die Untersuchung einbezogenen Begriffsprägungen eine – wie auch immer geartete – Verbindung zu Text und Sprache eigen. Dadurch bieten die vokalmusikalischen Termini, die sich als musikalische Fachbegriffe in Europa im transnationalen Musikdiskurs etablierten, in der Regel auch zahlreiche literaturwissenschaftliche, sozialgeschichtliche oder kulturwissenschaftliche Anknüpfungspunkte und verweisen auf Verflechtungen mit anderen Disziplinen.
Ein Ergebnis solcher Untersuchungen sind detaillierte Begriffsprofile der entsprechenden Termini, wobei Wechselwirkungen zwischen musikalischer Begriffs- und Sachgeschichte aufzuspüren und Ausstrahlungen der Fachbegriffe in die europäische Kulturlandschaft exemplarisch unter die Lupe zu nehmen sind. Daraus resultiert ein Panorama musikgeschichtlicher Verflechtungen im europäischen Kontext, sozusagen ein musikterminologisches Mapping, das jenseits des begriffsgeschichtlichen Tableaus auch weitere Bezugsebenen wie Migrationsstrukturen, Disziplinenvielfalt oder kulturelle Kontexte repräsentiert.
So ist beispielsweise die Entwicklung der Gattung Oper, die im repräsentativen Milieu italienischer Höfe entsteht, keineswegs direkt und geradlinig mit der ihr später unmittelbar zugehörigen Fachbezeichnung verbunden. Vielmehr etabliert sich der Fachbegriff "Opera" erst durch Wanderbewegungen von nach Italien kommenden Fremden. So gesehen scheint die Initialzündung für den Begriff "Oper" von einem Reisetagebuch auszugehen. Ein zweites Beispiel zeigt, wie wichtig die Methoden der Kontextualisierung sind. So kann für die Analyse der Begriffsgeschichte von "Kapelle" auf interdisziplinäre Strategien nicht verzichtet werden, da die musikalische Begriffsgeschichte nur einen Teil der Terminusgeschichte von "Kapelle" ausmacht.
Seit den 1950er Jahren hat sich Begriffsgeschichte schwerpunktmäßig in Deutschland und dort in verschiedenen Disziplinen etabliert. Dazu gehören die Philosophie, die Geschichts- und Sozialwissenschaft, die Musikwissenschaft, die Literaturwissenschaft und neuerdings auch die Naturwissenschaften. Wenngleich begriffsgeschichtliche Forschung von Anfang an explizit auch interdisziplinären Fragestellungen folgt, gab es zwischen den einzelnen Projekten, die unterschiedlichen Fächern angehören und in der Regel lexikographischer Natur sind, wenig Austausch. Außerdem wurde und wird musikwissenschaftliche Begriffsgeschichte von anderen begriffsgeschichtlich arbeitenden Disziplinen selten mehr als am Rande wahrgenommen. Inzwischen bedient sich freilich die »neue« begriffsgeschichtliche Forschung auch kulturwissenschaftlicher Perspektiven und dezidiert interdisziplinärer Fragestellungen.
In der musikwissenschaftlichen Forschung gehören begriffsgeschichtliche Untersuchungen in Form von Präliminarien mittlerweile zum methodischen Standard. Allerdings haben umfangreichere Forschungen zur Geschichte musikalischer Begriffe seit dem Abschluss des Handwörterbuchs der musikalischen Terminologie (HmT) im Jahr 2005 insgesamt weit weniger Beachtung erfahren, obwohl sich die Zugriffsmöglichkeiten auf potentielle Quellen insbesondere durch das Internet immens verbessert haben.
War es seinerzeit das erklärte Ziel des HmT, "die musikalische Terminologie zu einem Verstehensinstrument für Sachen und Sachverhalte in ihrem geschichtlichen Sein und Gelten" zu machen und somit vorrangig ein hermeneutisches Konzept zu verwirklichen, so erweitert die vorliegende Untersuchung diesen Entwurf durch die explizite Einbeziehung kultureller Kontexte und interdisziplinär ausgerichteten Quellenmaterials, um das Begriffsprofil auf einer möglichst breiten Basis zu entwickeln und als vielfältig vernetzt zu präsentieren. Zugleich soll auf der Metastufe im Blick auf die einzelnen Begriffsgeschichten ausgelotet werden, wie Begriffsgeschichte konstruiert bzw. rekonstruiert wird und wie demzufolge Begriffsgeschichtsschreibung funktionieren kann.
Dadurch leistet das Projekt einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, indem es z.B. das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie in das historische Ambiente der begriffsgeschichtlichen Forschung seiner Zeit stellt. Denn eine vergleichende Untersuchung dieser Zusammenhänge ist bisher ebenfalls ein Desiderat, da gerade musikterminologische Forschung seit den 1970er Jahren stark an fachspezifischen begriffsgeschichtlichen Diskursen interessiert war und weniger an einer historischen Verortung der Projekte in der Wissenschaftslandschaft ihrer Zeit.

PD Dr. Sabine Ehrmann-Herfort
2002–2023 (stellvertretende Leiterin, ab 2022 Leiterin der Musikgeschichtlichen Abteilung)
ehrmann-herfort[at]dhi-roma.it