Kapitalismus, was nun? Wachstumsstrategien in Westeuropa seit 1979

Dr. Lars Döpking

Seit Jahrzehnten schreitet Italien ökonomisch durch ein Tal der Tränen. Zwischen 1999 und 2019 notierte das jährliche Wirtschaftswachstum durchschnittlich bei unter 0,5%; die Folgen sind unter anderem hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit, kollabierende Sparquoten und politische Verwerfungen. Die "verlorenen Dekaden" zwischen Euroeinführung und Pandemie werden dabei gemeinhin als Endpunkt eines langen historischen Niedergangs interpretiert. Weil Italien eben keine potente oder zumindest kohärente Wachstumsstrategie umgesetzt habe – das heißt weder dem Vorbild Deutschlands folgend auf den Exportsektor gesetzt noch wie etwa Spanien über den Finanzsektor die Nachfrage mobilisiert habe –, fehle es ihm substantiell an Wirtschaftsdynamik. Der italienische Kapitalismus gilt mithin als dysfunktional, wenn nicht als gescheitert. Im gemeinsamen Markt bestehe für ihn nur wenig Hoffnung.
Mein Projekt widerspricht dieser Diagnose: Es zweifelt ebenso die These an, kohärente Strategien würden den Erfolg oder Misserfolg von Volkswirtschaften verantworten, wie es die Vorstellung kritisiert, laut der der italienische Kapitalismus sich in einer unüberwindbaren Abwärtsspirale verfangen habe. Zu diesem Zweck untersucht es vergleichend, wie Staaten nach Stagflation, Ölpreisschock und Wechselkursmechanismus 1979 neue Ansätze entwickelten, um ihre Ökonomien wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Am Beispiel Italiens, Spaniens und der Bundesrepublik will mein Projekt zeigen, dass sie sich dabei keineswegs auf ein neoliberales Handlungsrepertoire beschränkten. Vielmehr verglichen die in diesem Zeitraum vielerorts neugegründeten Wirtschaftsforschungsinstitute die Entwicklungen ihrer Volkswirtschaften miteinander, entdeckten so alternative Pfade und formulierten schließlich gemeinsame Schritte hin zu künftigem Wohlstand. Die Analyse ihrer umkämpften Strategieempfehlungen und deren Kollision mit unvorhergesehenen Ereignissen und Prozessen – Auflösung des Ostblocks, Digitalisierung des Kapitalismus – ergründet das nimmer ruhende Wesen kapitalistischer Dynamik und erlaubt, einen neuen Blick auf die Geschichte des zeitgenössischen Kapitalismus in Westeuropa zu werfen.


Dr. Lars Döpking
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Neuere und Neueste Geschichte
Vita
Schriftenverzeichnis
+39 06 66049265
l.doepking[at]dhi-roma.it